Die zweite kopernikanische Revolution – Wie können Langfriststrategien in einer „Echtzeit-Demokratie“ funktionieren?

Müller, Michael; Sommer, Jörg; Ibisch, Pierre L. | JAHRBUCH ÖKOLOGIE 2019/2020 ➤ Bestellen

Wird eine digitalisierte Demokratie wirklich demokratischer, nachhaltiger, ökologischer? Oder gibt es gegenteilige Effekte durch den Verlust von Qualität publizierter Information, noch mehr Ad-hoc-Entscheidungen, digitale Scherbengerichte, Manipulationsmöglichkeiten und social bubbles? Studien zeigen, dass sich Lügen – als „alternative Fakten“ – in der digitalen Welt leichter, schneller und wirkungsvoller verbreiten als Nachrichten über gesicherte Tatsachen. Nicht nur die Information explodiert, sondern auch Zwiespältigkeit und Vieldeutigkeit. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie können Langfriststrategien zum Beispiel gegen den Klimawandel in einer „Echtzeit-Demokratie“ überhaupt funktionieren?

Technik – ein sozialbestimmter Prozess

Die Entwicklung der Technik wird von der Wissenschaft als ein sozialbestimmter Prozess definiert. In diesen fließen neben technischen Innovationen politische und wissenschaftliche Rahmensetzungen, gesellschaftliche Akzeptabilität, kulturelle Wertmuster und wirtschaftliche Interessen ein (Lutz 1987). Natürlich haben je nach Umfang und Tragweite die Erfindungen und Technologien eine unterschiedliche Bedeutung und Reichweite. Mit grundlegenden Innovationen wie der Dampfmaschine, Elektrizitätserzeugung, Chemie, motorisierten Massenmobilität oder der Digitalisierung der Welt waren bzw. sind jeweils tiefgreifende Umbrüche in der Industriegeschichte verbunden, die je nach Umfang und Tragweite eine weitreichende Modernisierung der Infrastruktur (Bildung, Verkehrssysteme, Kommunikation, etc.) voraussetzen oder auch möglich machen.

Derartige Innovationen sind Weichenstellungen in der Entwicklung des Industriezeitalters. Aktuell gilt dies für die Digitalisierung der Welt. Die Verbindung von Datenverarbeitung und Nachrichtentechnik schafft nicht nur national völlig neue Möglichkeiten, sondern gestaltet zugleich auch weltweit eine globale Vernetzung ungeahnten Ausmaßes zwischen allen Mitgliedern der digitalisierten Systeme. Zudem erfolgt eine Entkopplung von allem Nicht-Digitalisierten, einschließlich der Ökosysteme.

Die virtuelle Globalisierung der Informationsnetzwerke mobilisiert reale Energie- und Stoffströme zwischen Systemen, die vorher kaum miteinander in Verbindung treten konnten. Dabei tun sich aber nicht nur große Chancen, sondern auch tiefe Abgründe auf. Allein die Geschäftsmodelle der großen Internetkonzerne zielen auf eine Transformation von Gesellschaften und Individuen ab. Mancherlei reale soziale Systeme verblassen vor der Wirkmächtigkeit digital vernetzter und digitale Kontrolle ausübender Akteure. Der Mensch wird zum komplett digital individualisierten Konsumenten. Er gerät in eine „perfekt personalisierte digitale Isolationshaft“ (Rabe 2019). Denn es wird möglich, den Menschen zu hacken. Algorithmen werden so konzipiert, dass die digitalen Unternehmen den Menschen „besser verstehen als wir uns selbst“. Bevor wir ahnen, was uns fehlen könnte, werden uns schon die Lösungen und entsprechenden Produkte angeboten.

Die Digitalisierung wird zum Klebstoff, Katalysator und Treibstoff von sich selbst entfesselnden und beschleunigenden Märkten. Systemisch wirkend generieren die Akteure und die Instrumente der Digitalisierung neue (Pfad-)Abhängigkeiten und eine Eskalation des Wachstums des gesellschaftlichen Umsatzes von allem.

Mit dem Keyword „smart“ verspricht die Digitalisierung ein innovationsfreundliches Synonym, das für flexibel, selbstregulierend, autonom oder intelligent steht. Die Digitalisierung verkürze den Weg für Wachstum und Jobs. „Smarte Citys“, auch das ist ein Versprechen, ziehen „smarte Menschen“ an, für die bei schlechtem Wetter die Ampelsignale länger auf Grün geschaltet werden, damit Fußgänger und Radfahrer besser durchkommen mögen. Alles wird hip. Tatsächlich zeigt sich jedoch die Janusköpfigkeit von Technik: Einerseits erweitert die Digitalisierung der Welt unkontrollierte Macht und Manipulationen, andererseits eröffnet sie in bisher nicht gekanntem Maße Partizipation und Transparenz. Und sie hat enorme soziale Auswirkungen in einer Zeit, in der die Individualisierung oftmals mit Bindungslosigkeit gleichzusetzen ist. Der Klebstoff der globalen Märkte zerstört den sozialen Kitt der lokalen Gesellschaften. In der harten Wirklichkeit erweist sich die Smart City als eine unrealistische Überhöhung oder gar als Euphemismus für totalitär gesteuerte Lebensverhältnisse. Die Innenstädte der Smart Cities werden zu einer abhängigen Größe privater Investorenmodelle und zum exklusiven, ausgrenzenden Lebensraum für diejenigen, die es sich leisten können drinnen zu sein – und die anderen auf Abstand beziehungsweise draußen zu halten.

Der Einsatz der digitalen Technik steht auch in einem engen Zusammenhang mit dem Neoliberalismus und seinen Dogmen von Privatisierung, Beschneidung des öffentlichen Sektors und Privilegierung unternehmerischer Interessen über soziale und ökologische Anforderungen. Sie wird vom Neoliberalismus vorangetrieben und ist selbst ein Treiber dieser Ideologie. Damit konnte sie sich im Übergang vom fordistisch-keynesianischen Zeitalter der Nachkriegsjahrzehnte zum globalen Arbitrage- und Finanzkapitalismus seit Ende der 1970er Jahre weltweit ausbreiten. Sie befeuern die „lateralen Weltsysteme“ (sensu Helmut Willke), welche den Gestaltungsspielraum konventioneller nationalstaatlicher Systeme rasant reduzieren.

Das US-Handelsministerium setzt „smart-technology“ an die Spitze seiner Prioritäten, unmittelbar neben das Freihandelsprojekt TTIP und einen „Digital Single Market“. Was sich künftig durchsetzen wird, ist dennoch nicht entschieden. Denn selbst das Imperium Google hat entschieden, das Wort „smart“ in der eigenen Werbung nicht mehr zu verwenden; in der Technikidylle von City-Unit ist es ebenfalls gestrichen.

Doch das ist nur die Oberfläche. Um was geht es darunter? Wir sind Zeuge eines fundamentalen Umbruchs, in dem es darauf ankommt, welche Weichen gestellt werden. Tatsächlich entfaltet sich eine „Great Digital Transformation“, die nicht nur die Verfasstheit sowie die Integrität der weltweiten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Systeme betrifft, sondern vor allem auch deren zukünftige Evolutionsfähigkeit. Nunmehr geht es darum, in einer neuen geopolitischen Epoche den Möglichkeitsraum der Digitalisierung für eine aktive politische, soziale und ökologische Gestaltung zu nutzen, damit es zu einer nachhaltigen Entwicklung kommen kann. Gelingt dies nicht, können die Folgen ökologischer Kollaps, wirtschaftlicher Niedergang und erbitterte Verteilungskämpfe sein.

Joseph Schumpeter sprach in Anknüpfung an Nikolai Kondratieff von „langen Wellen“, die für Aufstieg und Fall in der industriegesellschaftlichen Entwicklung entscheidend seien (Schumpeter 1961). Was sich dabei durchsetzt, liegt in unserer Hand. Dafür muss aber die Tragweite der Veränderungen erkannt, der Mut zu einer konkreten Utopie vorhanden sein und die Kraft für ihre Durchsetzung entwickelt werden …