JAHRBUCH ÖKOLOGIE 2019/2020 ➤ Bestellen
Die Entwicklung hin zu einer „durchdigitalisierten“ Gesellschaft geht oft mit dem Versprechen einher, die ökologische Krise technisch lösen zu können und Ressourceneffizienz voranzutreiben bzw. die wirtschaftliche Entwicklung gar zu dematerialisieren. Doch dies scheint einseitig und recht optimistisch gedacht. Zu Recht befürchten viele Akteure, dass Digitalisierung auch den Ressourcenkonsum ankurbelt. Das gilt zum Beispiel für bestimmte Rohstoffe durch verstärkten Einsatz von (kurzlebiger) Elektronik und Sensorik etc. Die Deutsche Rohstoffagentur geht davon aus, dass 2035 fast viermal so viel Lithium gebraucht wird wie 2013 und bis 2050 mehr als dreimal so viel Kupfer wie 2010. Man spricht vom Zeitalter der Informationstechnologie, welches das fossile Zeitalter ablöse und nun auf metallischen Rohstoffen fuße. Dabei müssen allerdings immer aufwendigere Verfahren angewandt werden, um an die Rohstoffe zu gelangen.
Die Beiträge im vorliegenden JAHRBUCH ÖKOLOGIE diskutieren direkte und indirekte Folgen der Digitalisierung auf Ökosysteme und Gesellschaft – teilweise im Hinblick auf komplexe Wirkungen, die bisher in anderen Arbeiten unbeachtet blieben. Die meisten Autorinnen und Autoren schildern Entwicklungen und Perspektiven der Digitalisierung als höchst widersprüchlich.
Einerseits waren wir noch nie so digitalisiert wie heute. Noch nie zuvor war die Menschheit in der Lage, die Situation der Erde quasi in Echtzeit zu vermessen und zu beurteilen, wie wir es heute tun. Niemals standen großen Teilen der Weltbevölkerung derart viele Daten und Informationen für Bildung und Entscheidungsfindung frei zur Verfügung. Andererseits haben wir noch nie so viele Ressourcen verbraucht und vergleichbar umfassend auf die lebenswichtigen ökologischen Systeme des Planeten eingewirkt. Die Nutzung und die Verschleuderung umweltschädlicher fossiler Ressourcen schreiten ungebremst zu neuen Rekordhöhen voran. Und noch nie entfernten sich Positionen von Meinungsführern und politischen Entscheidungsträgern so weit von wissenschaftlichen Erkenntnissen wie heute. Informationsexplosion und Digitalisierung sind eine Spätfolge der Aufklärung. Aber sie befördern nicht nur Wissen und Einsicht, sondern auch Verwirrung, Ambivalenz und Manipulation.
Wir bewegen immer größere Datenmengen. Dabei geht es nicht nur um den Zustand der weltweiten Wälder oder die globale Erwärmung, sondern auch um den massiven Austausch von Musik- und Katzenvideos. Leider ist auch das gefährlich für die Umwelt. Schon heute beträgt der Anteil des Internets am deutschen Stromverbrauch rund acht Prozent. In diesem Bereich werden Steigerungen von 30–50 %bis zum Jahr 2030 erwartet. Global gilt: Wäre das Internet ein Staat, wäre es der sechstgrößte Energieverbraucher der Welt. Hinzu kommen gesellschaftliche Verwerfungen durch mächtige transnationale Konzerne. Apple, Facebook, Google & Co treiben die Digitalisierung voran und lassen sich als Weltverbesserer feiern. Faktisch sind sie gleichzeitig Treiber unglaublicher Ressourcenvernichtung und entziehen ihre Profite der gesellschaftlichen Verantwortung, indem sie weitgehend steuerfrei operieren.
Die durch die Digitalisierung ermöglichten neuen Geschäftsmodelle sind häufig alles andere als nachhaltig. Das Beispiel des privaten Fahrdienstvermittlers Uber zeigt, dass sich das von Internet-Communitys gepriesene Teilen, Weitergeben und Kollektivnutzen von Dingen und Dienstleistungen auch als „brachialkapitalistisches“ Teufelszeug erweisen könnte. Und ist der Carsharing-Hype nicht zumindest fragwürdig, wenn immer mehr Freefloating-Autos unsere Innenstädte verstopfen und dem ÖPNV Kunden abspenstig machen? Viele Beispiele zeigen: Eine neue Wertschöpfungs- und Konsumkultur jenseits von Gier, Haben und schicken Skalierungseffekten ist kein Kinderspiel.
Selbstfahrende Autos, intelligente Verkehrsführung, Elektroautos als Energiespeicher, symbiotische Kombinationen von öffentlichem und individuellem Verkehr – in wenigen Bereichen wird die Digitalisierung mit so viel Fantasie vorangetrieben wie im Bereich der Mobilität. Aber setzt sich am Ende tatsächliche eine neue, nachhaltige, ressourcenschonende Mobilität durch? Oder sind die bisher gedachten Konzepte nur ein Versuch, ein totes Pferd weiterzureiten?
Ähnlich sieht die Situation in der Landwirtschaft aus: Mithilfe zahlreicher Daten zum Beispiel zur Bodenbeschaffenheit und Informationen zur Landnutzung durch Luftbildanalysen kann die Landwirtschaft die Ressourcen effektiver nutzen, den Düngemittel-, Wasser- und Pestizidverbrauch pro Fläche reduzieren und insgesamt etwas ökologischer produzieren. Doch die landnutzungsbezogene Datenmenge und der Zugriff darauf implizieren auch Risiken und neue Abhängigkeiten.
Hinzu kommt: Unsere prinzipiell technikgläubige und wachstumsfixierte Industriegesellschaft hat sich schon immer schwer damit getan, die langfristigen Folgen technischer Innovationen abzuschätzen. Der Einstieg in die Atomstromproduktion ohne gleichzeitigen Bau einer sicheren Endlagerstätte für die hochradioaktiven Abfälle ist dafür nur ein besonders drastisches Beispiel. Die zunehmende Digitalisierung scheint das Problem mangelnder Technikfolgenabschätzung jedoch aufgrund ihrer hohen Innovationsgeschwindigkeit und vielerlei für Konsumenten attraktiver Begleiterscheinungen noch weiter zu verschärfen. „Digitale Havarien“, ausgelöst durch winzige Fehler in komplexen Algorithmen, können nicht nur Aktienkurse abstürzen lassen, sondern auch dramatische Umweltschäden verursachen.
In fast allen Bereichen sind die ökologischen Auswirkungen der Digitalisierung ambivalent. Wie sieht es aber mit dem Nutzen der Digitalisierung für ökologisch engagierte zivilgesellschaftliche Akteure aus? Die Digitalisierung hat neue Formen gesellschaftlichen Wirkens erst möglich gemacht. Campact z. B. ist ein Kind der digitalen Generation und eine Non-governmental-Organization (NGO), deren digitalgetriebene, auf klassische Verbandsstrukturen verzichtende Arbeitsweise sich fundamental von derjenigen traditioneller Umweltverbände wie BUND, NABU, Naturfreunde u. a. unterscheidet. SumOfUs Ist eine der erfolgreichsten globalen Mobilisierung- und Fundrasising-Maschinen. Mehr Menschen, schneller mobilisiert, organisatorisch aber unverbindlicher eingestellt – ist das die Zukunft der Ökologiebewegung? Macht diese die großen Umweltverbände überflüssig? Ist es eine Konkurrenz? Entwickelt dies Reformdruck? Bedarf es neuer Formen der Kooperation? Ist die Digitalisierung eher Fluch oder Segen für die Umweltbewegung und ihre Ziele?
Auch für die Nutzung der Digitalisierung durch die Umweltbewegung gilt: Bislang gibt es viel Innovation, aber nicht genügend kritische Reflexion ihrer Begleiterscheinungen. Diese aber brauchen wir, wenn wir uns den Digitalisierungsprozessen und ihren Wirkungen nicht hilflos ausliefern wollen. Wir müssen deshalb lernen, die digitale Revolution ökologisch zu verstehen, d. h. ihre ökologischen Folgewirkungen und Mechanismen herauszuarbeiten, um sie dadurch letztlich auch politisch steuerbar zu machen. Um eine ökologische Trendwende in der Digitalisierung herbeizuführen, bedarf es einer „Ökologie der Digitalisierung“. Diese sollte nicht voraussetzen, dass aus Daten- und Informationsgewinnung automatisch ein systemisches Verständnis dieser Technologie folgt. Es geht um die Analyse der Digitalisierungswirkungen auf allen Systemebenen und die Interaktion zwischen ihnen – über alle sozialen und ökologischen Systeme hinweg.
Auch hierzu präsentieren gleich mehrere Autoren des vorliegenden Bandes des JAHRBUCH ÖKOLOGIE ihre Forschungen und Überlegungen. Von einem umfassenden ökologischen Verständnis der digitalisierten Gesellschaft sind wir allerdings noch weit entfernt.
Nach wie vor ist unklar, ob und in welchem Ausmaß die Digitalisierung von Kommunikation, Dienstleistung und industrieller Produktion den Übergang in die Nachhaltigkeit fördert – oder ihn gar behindert. Offensichtlich gibt es keine Zwangsläufigkeit in den ökologischen Auswirkungen der Digitalisierung. Mehr digital macht die Welt nicht automatisch „zu einem besseren Ort“, wie es das Mantra der digitalen Startups behauptet.
Die Digitalisierung findet statt, die ökologischen Wirkungen sind mannigfaltig, direkt und indirekt. Die „große digitale Transformation“ läuft, auch ohne, dass wir sie kritisch verstehen und diskutieren. Umso wichtiger ist: Die aktuelle Digitalisierungsdynamik muss von einer kritischen Wertediskussion begleitet werden. Den Fragen „Warum sollten wir?“ und „Was sollten wir nicht?“ gebührt ein angemessener Raum im öffentlichen Diskurs. Mehrere Beiträge in diesem Jahrbuch werben für die „Ökologisierung der digitalen Gesellschaft“ als eine unverzichtbare Aufgabe, für die Schaffung einer entsprechend neuen angewandten und politischen Teildisziplin der Ökologie.
Wir brauchen die Vision einer sinnvollen Nutzung der Technologie für eine sozial-ökologische Transformation auf Grundlage einer umfassenden proaktiven Technikfolgenabschätzung und -bewertung, die die Wechselwirkungen der Digitalisierung mit allen konventionellen Stressoren von ökologischen und sozialen Systemen einschließt.
„Die Forderung nach einer guten Gesellschaft ist ehrgeiziger als die nach der besseren“, sagte Erhard Eppler. Die Dynamik der Digitalisierung macht das Ringen um diese gute Gesellschaft nicht einfacher. Aber eben auch nicht weniger bedeutend.
Die Herausgeber, im Juli 2019